Lebensbilder

von Frauen für Frauen

Andrea


Ich gehe, beeinflusst durch meine Erziehung, schon früh davon aus, dass die wirklich wichtigen Dinge der Welt in Frauenhänden liegen. Statt Kindergärtnerin oder Lehrerin will ich lieber Missionarin in Japan werden. Meine wöchentlichen Besuche in der Stadtbibliothek der nahe gelegenen Universitätsstadt bestärken mich in meinen Ansichten - ich verschlinge schon sehr früh Frauenbiographien und Bücher von weiblichen Autorinnen. Ich lerne schon früh zu recherchieren: Die Welt der sechziger Jahre ist nicht gerade voll gepflastert mit Vorbildern meines eigenen Geschlechtes.

Ich bin vierzehn, als sich die Nebel meiner imaginären Welten ein wenig lichten. Der Grund dafür heißt Ulli und singt die wohl tönende Altstimme neben mir im Schulchor. Inzwischen bin ich mit Eltern und Schwester in die nächst größere Universitätsstadt umgezogen. Gegen energische Proteste der Großmutter, die uns Schuldgefühle mit ihrer Forderung „bleibe im Lande und nähre dich redlich“ einredet. „Lande“ heißt für sie eben nicht das Sündenbabel der erweiterten Kleinstadt. Immerhin sorgt sie dafür, dass ich mich in der örtlichen Frei-Evangelischen Gemeinde einchecke. Die streng bibeltreue Gemeinde missioniert einmal jährlich die Stadt, vermiest den aktiven Karnevalisten mit „Jesus lebt!“ - Schweigemärschen den Faschingsumzug und nimmt mich verstreutes Schaf gerne auf, um aus mir eine tüchtige Christenfrau zu machen. Davon, dass ich mich in Ulli verliebt habe, ahnen die Brüder und Schwestern nichts. Ich kapiere es ja selbst nicht so ganz. Es scheint mir ganz natürlich zu sein, ihr einen glühenden Liebesbrief zu schreiben, in dem ich sie auffordere, mir definitiv zu sagen, ob sie meine Freundschaft für immer annehme oder mich sofort ins tiefe Tal der Verzweiflung stürzen wolle. Und dann eine geschlagene Stunde vor dem Klassenzimmer auf ihre Antwort zu warten. Sie entscheidet sich für die „für immer“- Variante und nimmt damit meine Gefühle für die kommenden 20 Jahre fest in Beschlag.

Ulli ist von diesem Augenblick permanent an meiner Seite. Mit Ausnahme der Zeit, die sie mit ihrem Freund verbringt, wenn der vom Studium nach Hause kommt. Das ist nicht sehr oft der Fall. Ansonsten glucken wir beide von der Morgenandacht vor der Schule bis zum Abschied von Ullis Vorortzug am Nachmittag zusammen und blockieren abends stundenlang das Telefon. Männer sind unumgängliche Faktoren im Leben einer Frau, vermittelt meine Umwelt. Sie gehören dazu, um sich gesellschaftlich zu etablieren, sind aber so langweilig wie ungewaschene Wollsocken. Zu Beginn der Oberstufe mache ich zwei folgenschwere Entdeckungen: In der Freievangelischen Gemeinde könnte ich zwar Gattin eines nach Japan entsandten Missionars werden, aber gemäß des Paulus-Wortes, dass Frauen in der Kirche zu schweigen haben, nicht selbst die Frohe Botschaft verkünden. Zum anderen wacht in dieser Zeit mein Körper langsam auf und macht mich darauf aufmerksam, dass ich entschieden mehr von Ulli will, als Händchen haltend mit ihr über den Schulhof zu laufen. Solche Gelüste kommen aber nun in einer Gemeinschaft nicht vor, die schon die heterosexuelle Sexualität vor der Ehe als Teufelswerk bekämpft. Es gibt kein Wort für meine Gefühle, mit dem ich leben könnte. Lesben nennen sich die hennagefärbten Mitschülerinnen in lila Latzhosen, die provokativ vor den Lehrern knutschen, und mit denen habe ich nichts am Hut. Ulli zieht sich bei meinem rein theoretisch geäußerten Begehren auf ihre Heteropartnerschaft zurück, legt aber bühnenreife Szenen hin, als ich meine Bedürfnisse mit einer liberaleren Mitschülerin auszuleben wage. Der Druck, unter den ich mich gesetzt fühle, wächst ins Unendliche: Meine Heimatgemeinde verschließt mir dort die Türen, wo ich mich am authentischsten fühle, in dem gewünschten Beruf und in der von mir gewählten Lebensform. Die Fundamentalisten malen mir grauselige Szenarien aus, die Menschen treffen, „welche unnatürlichen Leidenschaften frönen“. Niemals werde ich aus den Höllengluten wieder herauskommen. Nur ein Ausweg bleibt aus dieser schizophrenen Situation: Ich breche radikal mit der Kirchengemeinde, mit meiner christlichen Heimat.

Die Schuldgefühle, die mich von da an überfallen, quälen mich in höchsten Maße. Der Zugang zu Gott und meiner Religion ist versperrt. Schlimmer noch, als „Lauwarme“, die Gottes Botschaft kennt, aber ablehnt, falle ich der ewigen Verdammnis anheim. Vielleicht als Buße, bestimmt aber als Konsequenz dieser Entscheidung, versuche ich zumindest eine „ordentliche heterosexuelle Frau“ zu werden. Misserfolge und gescheiterte Beziehungen sind vorprogrammiert. Es will nicht klappen zwischen mir und den Männern. Sei es, dass ich zu freiheitsliebend oder zu feministisch orientiert bin. Ulli, inzwischen verheiratet mit ihrem Studenten und Mutter zweier Töchter, bleibt die große schmerzhafte Wunde, die wichtigste Bezugsperson und die unerfüllbare Sehnsucht.

Der evangelische Kirchentag 1987 in Frankfurt bricht diesen Schmerz zunächst auf, denn Ulli, die studierte Religionspädagogin, reist an, um mich zu mehreren Veranstaltungen zu schleppen, die alle um ein Thema kreisen: Homosexualität und Kirche. Dort erlebe ich, wie schwule Pfarrer sich outen, um sich von meinen fundamentalistischen Brüdern und Schwestern als „Unrat“ beschimpfen zu lassen. Dort auch erzählt eine lesbische Religionslehrerin von ihrer Frauenbeziehung und gibt so meiner Liebe eine neue Dimension.

Eigentlich versuche ich fortwährend aus meinem Alltag auszubrechen. Ich verliebe mich leidenschaftlich in Heterafrauen, die sich neugierig auf ein Abenteuer mit mir einlassen. Immer jedoch, wenn es gilt, aus dieser Affäre mehr werden zu lassen, kneifen beide Beteiligten. Ich habe Angst vor den Konsequenzen. Ich kann mich nicht mit dem Lesbischsein identifizieren. Und ich will Ulli nicht betrügen, will mein Begehren nicht verraten, das längst internalisiert ist und sich gar nicht mehr ausleben hätte lassen. Und ganz sicher fürchte ich mich auch vor den gesellschaftlichen Folgen. Mein Freundeskreis findet meine Bisexualität chic, beschwört mich aber, das Lager nicht vollends zu wechseln. Die zu erwartenden Folgen werden als Inferno für mich ausgemalt.

Eine Männerbeziehung, die ich auf Dauer angelegt hatte, entwickelt sich zum Desaster und ich weiß mir 1993 nur noch den Rat, mich für zwei Jahre beruflich nach Prag abzusetzen. Die Frage der Berufswahl hatte ich niemals leicht klären können. Nach intensivem Flirten mit der Theaterdramaturgie, lande während meines Germanistikstudiums im Journalismus. Und spezialisiere mich auf Frauenthemen und Mitteleuropa. Zwei Jahre Kulturredaktion einer deutschsprachigen Zeitung bringen auf den Punkt, was ich vorher nicht zu fühlen gewagt hatte: In die Mitbewohnerin bin ich völlig verknallt und unbewusst ständig auf der Suche nach frauenliebenden Tschechinnen. Mein Interesse für Frauen ist so offensichtlich, dass ich mich noch einmal mit der Lebensform „lesbisch“ auseinandersetzen muss. Diesmal ziehe ich Konsequenzen. Dem Lebensgefährten kündige ich das „ für immer“ und vor allem das „auf ewig“.

Leider lässt sich in der postsozialistischen Tschechischen Republik die Frauenliebe fast noch schwieriger leben als in meinem fundamentalistischen Bibelkreis der Frei-evangelischen Gemeinde. Ich kehre also in die deutsche Großstadt zurück, in der ich seit meiner Studienzeit die Zelte aufgeschlagen habe. Und noch ein Schlusspunkt muss gesetzt werden: In einer Aussprache bitte ich Ulli, die ich seit vielen Jahren nur bei gelegentlichen Besuchen sehe, der ich mich aber nach wie vor verpflichtet fühle, um eine klare Position, was den Beziehungsaspekt unserer „Freundschaft“ anbelangt. Ich werde - erwartungsgemäß - negativ beschieden, habe aber mit dieser klaren Entscheidung das Fundament für meinen neuen Weg gelegt.

Es dauert noch mehr als ein Jahr, und ich möchte es immer noch gerne für einen Zufall halten, da tanzen meine Hormone Samba, als ich eine nette, ebenfalls freikirchlich engagierte Mitarbeiterin näher kennen lerne. Aus dem Flirt unter Kolleginnen entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit eine leidenschaftliche Liebesgeschichte. Plötzlich wird mir klar, dass ich meinen Glauben und meine Frauenliebe sehr wohl zusammenleben kann. Durch die spirituelle und sexuelle Gemeinschaft mit meiner Partnerin fühle ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in meinen zwei Hälften zusammengefügt. Meine Trauer über den Verlust der Gemeinschaft mit Glaubensgeschwistern löst sich auf, gleichzeitig mit der Abwehr, mit der ich christlichen Themen bis zu diesem Zeitpunkt begegnet war. Doch das Glück hat keine Zukunft. Zu stark ist der Druck, dem meine Partnerin ausgesetzt ist. Die Gemeinde fordert eine klare Entscheidung. Meine Freundin fällt sie gegen unsere Liebe, gegen unsere Lebensform und gegen die gelebte Sexualität. Mir bleibt die Alternative – entweder zurück in die Gottesferne, die Scham und die Homophobie, oder den Weg nach vorne anzutreten: in lesbische Netzwerke, in tolerante Gemeinden und in das sich aktive Einmischen in Kirche und Kirchenpolitik. Ich entscheide mich für die letztere Möglichkeit.

Mein Leben ist heute nicht mehr dem Druck ausgesetzt, der es mehr als drei Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt hatte. Eltern, Freunde und KollegInnen, die neue Kirchengemeinde haben ausnahmslos sehr herzlich und offen auf die Konfrontation mit meinem Lesbischsein reagiert. Ich habe mich im Netzwerk Katholischer Lesben engagiert, in dem ich eine neue Verankerung für mich gefunden habe. In dieser Zeit als Christin zu leben, bedeutet für mich auch, sich für die Ökumene einzusetzen. Für Veranstaltungen zu feministischer Theologie und zum Thema Homosexualität und Kirche bin ich auch im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit tätig und pflege die Kontakte mit europäischen Lesben- und Schwulenorganisationen.

Selbst im Privatleben öffneten sich neue Türen und Fenster: Die neue Frau in meinem Leben habe ich in meinem neuen Kontext kennen gelernt. Sie ist als Katholikin in ihrer Kirche aktiv und wir beide betrachten die gelebte Ökumene und die Auseinandersetzung zu religiösen Themen als Eckpfeiler unserer Beziehung, die uns so wichtig sind wie die geistige und sexuelle Übereinstimmung.

Ich bin fest davon überzeugt, dass ich als Lesbe und Christin in der Liebe Gottes lebe und dass mich diese Liebe frei macht, für ein Leben in der Hoffnung, dass endlich die negativen Zuschreibungen, die Diskriminierung und die eigene Homophobie ein Ende haben können, wenn wir alle bereit sind, an uns zu arbeiten.