Lebensbilder

von Frauen für Frauen

Kristel


[In dankbarer Erinnerung an unsere Mitfrau Kristel, die im Herbst 2011 gestorben ist; oder wie es in der Trauerkarte formuliert war: Heimgehen durfte!]

In den Niederlanden wurde ich am 6. Dezember 1936 als zweites von drei Mädchen geboren. Ich sollte unbedingt ein Junge sein und wegen des Geburtstermins Klaus heißen. Nun war ich eine Christel.

Die Familie wartete auf einen männlichen Nachkommen zum Erhalt des Familiennamens und auf einen Erben der Herrenschneiderei. Die Schneiderei gab es schon über viele Generationen. Als Mädchen entsprach ich in keiner Weise vor allem den Wünschen meiner Mutter. Meine ältere Schwester war immer die gute Tochter, die schon früh auch Verantwortung übernehmen musste. Als dann nach zwei Jahren noch ein Mädchen geboren wurde, machte diese mir dann durch ihre Zartheit und ihren Liebreiz die Liebe meiner Mutter völlig streitig. Wegen ihrer hellen Löckchen wurde sie „unser Helles“ genannt. Ich kann nicht sagen, dass ich meine beiden Schwestern geliebt habe. Hing immer dazwischen. Je nach Bedarf war ich zu groß oder zu klein.

Ich buhlte sehr um die Liebe meiner Mutter und war bestrebt, ein besonders liebes Kind zu sein, was mir wegen meines Temperaments und meiner großen Fantasie nicht oft gelang. Mutter nahm mich nie in den Arm und war sogar eifersüchtig, wenn Vater mir Aufmerksamkeit schenkte. Mein Vater war ein lieber, aber sehr schwacher, meiner tüchtigen Mutter höriger Mann. Ich saß oft bei ihm auf dem Schneidertisch, wo er mir Märchen und Geschichten erzählte, die ich alle glaubte. Er war übrigens der einzige Mann, den ich echt geliebt habe.

Als wir im Krieg von Holland nach Deutschland kamen (meine Eltern waren wegen der großen Arbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre ausgewandert), lernte ich in den Familien meiner Eltern einige Vettern kennen. Die waren meine ersten Kontakte zu Jungen. Da sie meine Puppen zerstörten und mich auch ihre Spiele nicht mitspielen ließen, fand ich sie grässlich.

In der Schule (mit sieben Jahren) hatte ich meine erste „beste Freundin“, dann verliebte ich mich in meine Gruppenführerin bei den katholischen Pfadfinderinnen und neunjährig in meine Deutschlehrerin. Die schönsten Aufsätze ließ sie uns in ein besonderes Heft schreiben. Mindestens fünfmal durfte ich mich darin verewigen. Damit machte ich ihr meine Gedanken zum Geschenk. Eine Lieblingstante hatte ich auch und die Mütter meiner Freundinnen „adoptierte“ ich. Meine Erklärung für meine Schwärmereien war immer die Suche nach einer „Ersatzmutter“.

Als meine Freundinnen für Jungen schwärmten, war ich eifersüchtig auf die Zeit, die sie mit ihnen verbrachten. Zum Trost zeigte mir meine damals „beste Freundin“ (bin noch heute mit ihr in Kontakt), wie Mädchen küssen, sich anschmiegen und was sie sagen oder nicht sagen dürfen, um sich einen Freund zu angeln. In dieser Hinsicht fehlte mir jede Lust und jedes Talent. Die Lehrstunden mit meiner Freundin aber fand ich himmlisch und ihre Küsse und Umarmungen machten mich taumelig. Leider war sie immer öfter mit Jungs unterwegs.

Diese schönen Gefühle hatte ich nie, als ich dann mit 16 Jahren meinen späteren Ehemann kennen lernte. Er war 18 Jahre und schon unheimlich männlich. Meine Eltern, vor allem Mutter, waren begeistert - ein Ersatzsohn! Er fuhr Motorrad, arbeitete als Schlosser (tolle Muskeln) und roch, da Raucher, nach Mann. Es wurde ein Aschenbecher angeschafft und auch die Schnaps- und Biergläser wurden entstaubt. Er war wie ich bei den Pfadfindern. Mit so einem Freund stieg ich in der Achtung der Familie. Er hatte vier Schwestern und zwei Brüder und als ältester Sohn, neben dem sehr autoritären Vater, das Sagen. Die Mutter nahm die Rolle der absoluten braven Hausfrau ein.

Mit knapp 20 Jahren heirateten wir, und ich bekam von 1958 bis 1970 sieben Kinder - vier Jungen und drei Mädchen. Ich war ganz und gerne Mutter und endlich anerkannt. Meine Kinder liebte ich über alles und schenkte ihnen all die Zärtlichkeit, die ich mir immer so gewünscht habe. Mein Mann war alles andere als zärtlich. Er nahm mich, wann immer es seine Männlichkeit brauchte - und er war eben sehr männlich. Ich war gerne schwanger, es bedeutete doch einige Monate, wenn auch eingeschränkt, etwas Schonung.

Als ich aus Gesundheitsgründen keine Kinder mehr bekam, freute sich mein Mann, weil es nun keine Ausreden mehr gab. Da wurde ich immer öfter krank und sehnte mich nach Ruhe und Verständnis. Eine weiche Schulter zum Ausweinen fand ich ab und zu bei den Frauen der Gymnastikgruppe, die ich besuchen durfte. „Es hält deinen Körper fit.“ Nach einer Unterleibsoperation wollte ich mich immer öfter „entziehen“. Ich litt fürchterlich, aber Schläge und Tritte, dazu die Angst um meine Kinder brachten mich zwischenzeitlich dazu stillzuhalten. Auch finanziell total abhängig wusste ich keinen Ausweg. Wie sehr hätte ich eine verständnisvolle Mutter gebraucht, aber die war immer noch auf der Seite des Mannes. Oft wollte ich nur noch wegen der Kinder leben. Immer öfter erschienen mir im Traum Frauen, die mich auffingen, und ich wurde zur „Tagträumerin“, um meine Situation aushalten zu können.

Im Laufe der Zeit suchte ich mir einige Putzstellen, von denen niemand etwas wusste. Wenn Mann und Kinder zur Arbeit und Schule waren, sammelte ich eigenes Geld auf ein Sparbuch, welches über Namen und Adresse einer Turnschwester lief. Ich war über 40 Jahre, als ich die ersten eigenen DM 100.- besaß, und lud eine Freundin zu einer Pizza ein.

Mit 45 Jahren reichte ich die Scheidung ein. In der Zeit nannte mich mein Mann das erste Mal eine „Lesbe“. Für mich ein schlimmes Schimpfwort, welches ich auch gar nicht verstand. Meine jüngste Tochter fragte, was der Papa sagte. Ich erklärte ihr, er meine, ich sei lästig. Das konnte sie verstehen und begriff so auch den Sinn der Scheidung. Bis zum Scheidungstermin ging ich erst recht durch die Hölle. Meine Eltern, Schwestern und die ganze angeheiratete Familie ließen mich fallen wie ein Stück Dreck. Oft fühlte ich mich durch meinen „Noch-Ehemann“ so bedroht, dass ich davonlief und bei einer Freundin aus der Gymnastikgruppe Schutz bis zum Morgen fand. Öfter kam nun das Wort „Lesbe“ auf und sogar mein Anwalt riet mir, jeden Kontakt zu Frauen zu meiden. Da hätte ich meine einzigen Schutzzonen aufgegeben und lehnte das Ansinnen ab. Um den guten Ruf ihrer Familien nicht zu gefährden, zogen sich aber einige Frauen zurück. Das erste halbe Jahr lebten wir noch zusammen im gemeinsamen Haus, weil es finanziell keine andere Möglichkeit gab. Die Kinder waren mir da etwas Schutz. Ich schlief bei einer Tochter im Zimmer. Wegen immer neuer Übergriffe musste er dann von Amts wegen ausziehen.

Nach der Scheidung blieb ich mit vier Kindern im Haus. Der älteste Sohn und die älteste Tochter studierten und wurden vom Vater unterstützt. Der jüngste Sohn ging mit seinem Vater. Ich nahm weitere Arbeiten an, um uns zu ernähren. Nachts putzte ich Treppenhäuser oder hielt Nachtwache bei Sterbenden aus der Pfarre. Zwischendurch hatte ich Kurse für Alten- und Heimpflege besucht. Der Turnverein ließ mich einige Kinderturnstunden übernehmen, wofür ich den Übungsleiterschein machte. In den ersten Jahren hatte ich nicht viel Zeit zum Nachdenken. 1986 bekam ich eine halbe Stelle als Stationshilfe im Krankenhaus und nach einem Jahr arbeitete ich dort als EKG-Hilfe. Als ich nach 11 Jahren mit nunmehr 60 Jahren aufhörte, stand mir eine eigene kleine Rente zu und ließ mich auf Wolken schweben.

Was tat ich, wenn ich nicht arbeitete?

In einer Frauengruppe, „die Oase“, die sich mit feministischer Theologie beschäftigt, lernte ich wieder - und anders zu leben. Dort fühlte ich mich geborgen, auf- und angenommen. Meinen Glauben hatte ich nie verloren, aber aufgehört, auf Hilfe von außen zu hoffen. Ich las Bücher über Homosexualität und begann, mich immer mehr selbst zu erkennen und anzunehmen. Natürlich glaubte ich nicht, mit nunmehr über 50 Jahren mein Lesbischsein leben zu können.

In Gesellschaft von Frauen fühlte ich mich einfach geschützt. 13 Jahre lang hatte ich auch eine Freundin, mit der ich vieles unternahm und öfter in Urlaub fuhr. Wir hatten eine gute Zeit miteinander - aber sie war nicht das.

Ganz unvorbereitet und wie ein Himmelsblitz traf mich dann die Liebe. Ich wusste nicht, wer sie war, nicht, was sie war - ich wusste nur, dass sie war. Ich, 58 Jahre und verliebt wie ein Backfisch! Sie merkte zunächst nichts, und ich versuchte, sie nicht zu erschrecken. Ich konnte es kaum fassen, diese Gefühle in mir zu haben. Seit drei Jahren liebe ich sie und seit zwei Jahren sind wir zusammen. Sie ist meine Frau - ob ich auch so die ihre bin, weiß ich nicht so genau, denn sie ist um vieles jünger und um vieles zurückhaltender als ich. Meine ganze Liebe gehört ihr, und ich will froh sein über die Zeit, die wir zusammen haben können.

Mein Coming-out hatte ich am Evangelischen Kirchentag in Leipzig 1997, und ich sage mir heute:

„Es ist nie zu spät - und nun lebe ich.“